19.11.2025
Ukraine-Staatspräsident Selenskyj steht vor seiner größten Herausforderung seit der Invasion durch Russland. Eine Mafia-Bande in seinem Umfeld soll bis zu 100 Millionen Euro Schmiergeld kassiert haben. Nun platzte die Entlassung von zwei Ministern im Parlament.

Die Schmiergeld-Affäre stellt eine ernste Bedrohung für Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj dar
Ein großer Korruptionsskandal entwickelt sich zur größten Krise der Ukraine seit dem Einmarsch russischer Panzer Anfang 2022. Regierungsquellen berichten, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj von dem Ausmaß der Vorwürfe gegen Mitglieder seines engsten Kreises „erschüttert“ sei.
Selenskyj hat Schritte unternommen, um sich von einigen der bisher in der Untersuchung genannten Personen zu distanzieren, aber sie blieben bisher ohne Folgen. Am 18. November sollte das ukrainische Parlament über die Entlassung von Energieministerin Svitlana Hrinchuk und Justizminister Herman Halushchenko abstimmen. Doch dazu kam es nicht.
Bei der Sitzung am Dienstag blockierten Abgeordnete der Opposition das Rednerpult im Parlament. Sie hielten Schilder in der Hand, auf denen „Zero Corruption“ oder „Was ist der Preis der Dunkelheit?“ stand. Die Protestierenden der Partei „Europäische Solidarität“ machten klar, dass sie gegen eine Absetzung der beiden Minister stimmen werden, sie fordern einen Rücktritt der gesamten Regierung.
Die Partei „Europäische Solidarität“ wird von Ex-Präsident Petro Poroschenko geführt. Die Sitzung im Parlament wurde abgebrochen, am Mittwoch soll ein neuer Anlauf für eine Abstimmung erfolgen. Selenskyj befand sich nicht im Land. Er besuchte am Dienstag Spanien, Bilder zeigen ihn auch mit König Felipe VI.*

Minister-Abberufung blockiert: Abgeordnete der Opposition stellten das Rednerpult des Parlaments in Kiew zu
Die kommenden Tage dürften für ihn dramatisch werden, da wichtige Akteure den Präsidenten offenbar dazu drängen, seine umstrittensten Vertrauten zu entlassen, um sich selbst und den Staat zu retten.
Die Ermittlungen, die diesen Aufruhr ausgelöst haben, sind eine Herkulesaufgabe der Antikorruptionsbehörden des Landes, die während der 15-monatigen Untersuchung den heftigen Widerstand anderer staatlicher Stellen überwunden haben. Anhand geheimer Aufzeichnungen von Gesprächen in Wohnungen und Hinterzimmern in Kiew dokumentierten sie einen Plan zur Veruntreuung von mindestens 100 Millionen Dollar aus Energoatom, dem staatlichen Atomkonzern.
Die Details sind erschütternd. Die Ermittler fanden eine goldene Toilettenschüssel in einer Wohnung von Timur Mindich, einem ehemaligen Geschäftspartner und engen Vertrauten des Präsidenten.

Mindich wird vorgeworfen, an der Organisation des kriminellen Komplotts beteiligt gewesen zu sein.
Er floh aus dem Land, nur wenige Stunden bevor Ermittler des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) bei ihm zu Hause eintrafen, was darauf hindeutet, dass er möglicherweise einen Hinweis erhalten hatte.
Ein Teil des gestohlenen Geldes scheint nach Moskau transferiert worden zu sein.
Ein Teil war für den Bau von vier prunkvollen Villen in der Nähe von Kiew vorgesehen, die angeblich für Oleksiy Chernyshov, einen ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten, sowie andere namentlich nicht genannte Beamte bestimmt waren. Chernyshev, Halushchenko und Hrinchuk bestreiten jegliche Beteiligung an Korruption.

Präsident Wolodymyr Selenskyj besuchte am Dienstag Spanien und traf König Felipe
Wie in einem Film mit Mafia-Bösewichten verwendeten die Angeklagten Decknamen für einander, um nicht identifiziert zu werden.
Die Ermittler behaupten, dass „Carlson“ sich auf Herrn Mindich bezog, „Che Guevara“ auf Herrn Chernyshov und „Professor“ auf Herrn Halushchenko.
An einer Stelle in den Protokollen beklagt sich einer der Angeklagten über Rückenschmerzen, weil er schwere Taschen mit Bargeld durch Kiew schleppen musste. Ein anderer meint, es sei „Geldverschwendung“, in den Schutz wichtiger Umspannwerke in der Nähe von Kernkraftwerken zu investieren.
Durch einen unglücklichen Zufall wurden genau diese Umspannwerke am 8. November, am Vorabend des ersten Bekanntwerdens des Skandals, von russischen Drohnen und Raketen angegriffen. Der Zynismus hat die Ukrainer erschüttert. Viele leben ohne Strom oder haben Verwandte, die an der Front ihr Leben riskieren, wo es in den letzten Wochen schwierig war, den russischen Angriffen standzuhalten.
Die Mitglieder der Gruppe scheinen bis Juli nicht mitbekommen zu haben, dass sie abgehört und gefilmt wurden.
Als sie es bemerkten, begannen sie, die NABU-Ermittler zu bedrohen. Sie verfolgten sie, beschafften sich ihre Privatadressen und verschafften sich sogar Zugang zu geheimen CCTV-Aufnahmen (Überwachungskamera-Bildern, die normalerweise nur Strafverfolgungsbeamten zur Verfügung stehen), um die Aktivitäten der Ermittler zu überwachen.
Es kam zu einem Katz-und-Maus-Spiel im Stil von James Bond, bei dem die Ermittler zu kreativen Methoden griffen, um der Überwachung zu entgehen und Beweise zu sammeln.

Ukraine-Justizminister Herman Halushchenko ist rief in die Affäre verstrickt und trat zurück
Etwa zur gleichen Zeit begann das Präsidialamt, Druck auf die Antikorruptionsbehörden auszuüben. Am 21. Juli wurden mehrere an den Ermittlungen beteiligte Ermittler selbst von den Sicherheitsdiensten festgenommen.
Am nächsten Tag setzten die Abgeordneten der Partei des Präsidenten in aller Eile ein Gesetz durch, das den ukrainischen Antikorruptionsbehörden ihre operative Unabhängigkeit entzog – ein Schritt, der nach massiven öffentlichen Protesten rückgängig gemacht wurde.
Es gab Versuche der Staatsanwaltschaft, Anklage gegen Oleksandr Klymenko, den Leiter der ukrainischen Antikorruptionsbehörde SAPO, zu erheben, die jedoch letztlich aufgegeben wurden. Klymenko sagt, dass die Ermittlungen nur deshalb fortgesetzt werden konnten, weil die Bemühungen des Präsidialamtes gescheitert waren. „Hätten sie das Gesetz nicht zurückgenommen, hätten wir die Ermittlungen einfach nicht abschließen können.“
Quellen, die der Untersuchung nahestehen, sagen, dass sie noch nicht festgestellt haben, wer alles von den korrupten Machenschaften wusste und wie weit sie nach oben reichten.
Es geht um Schmiergeld, Kickback-Zahlungen in Höhe von 10 bis 15 Prozent für Verträge mit Energoatom. Selenskyj selbst nahm an einem Telefonat mit einem der Beschuldigten teil, allerdings nicht in einer Weise, die ihn belasten könnte.

Energieministerin Svitlana Hrinchuk, hier bei einer Rede auf der Weltklimakonferenz 2024 in Baku, nahm ebenfalls den Hut .
Tatsächlich scheinen die Wurzeln des Komplotts Jahrzehnte zurückzureichen, lange bevor der Präsident 2019 sein Amt antrat. Viele der mutmaßlichen Mitglieder des Syndikats – und eines der von ihm genutzten Büros – stehen in Verbindung mit Andrii Derkach, einem ehemaligen Abgeordneten, der in den 2000er Jahren Energoatom leitete, bevor er 2022 nach Russland floh.
Gut informierte Quellen geben an, dass der Präsident nicht alle Details des Plans gekannt haben kann, insbesondere da er sich auf die Kriegsanstrengungen konzentrierte. „Wenn Selenskyj das Ausmaß der Verbrechen gekannt hätte, dann hätte er das Gesetz im Juli niemals rückgängig gemacht“, sagt eine Quelle aus dem Umfeld der NABU.
Doch die Nähe seiner engen Verbündeten zu dem Skandal könnte ausreichen, um seine politische Zukunft zu gefährden. Ein ukrainischer Geheimdienstmitarbeiter beschreibt ihn als „Schlag von atomaren Ausmaßen“.
Der Skandal bedroht den Kampf der Ukraine gegen Russland in zweierlei Hinsicht. Im Inland besteht die Gefahr, dass er wehrkraftzersetzend wirkt und mehr Soldaten zur Desertion veranlasst; die Frontlinien sind bereits überlastet.
Im Ausland erschwert er es der Ukraine, um die Hilfe zu bitten, die sie benötigt, um weiterzumachen, und die auf etwa 100 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt wird. Einige werden die Enthüllungen über Korruption nicht als Beweis dafür nutzen, dass das Land über unabhängige Korruptionsbekämpfungsbehörden verfügt, sondern als Argument, um die Unterstützung zu kürzen. Mehrere europäische Botschafter sollen ihre Besorgnis über die politischen Folgen geäußert haben.

Der Skandal ist ein Schlag gegen den Wehrwillen: Ein durch einen russischen Militärschlag beschädigtes Wohnhaus in der Frontstadt Dobropillia in der Region Donezk
Der Skandal hat bereits zwei Ministerkarrieren beendet. Die Regierung hat eine vollständige Prüfung der staatlichen Unternehmen versprochen. Doch ohne einen umfassenden und politisch schmerzhaften Neuanfang lässt sich die Fäulnis wahrscheinlich nicht eindämmen.
Die Messer sind gewetzt für Andrii Yermak, den einschüchternden Stabschef von Selenskyj, der sich durch die Monopolisierung der Macht und des Zugangs zum Präsidenten sowohl Freunde als auch Feinde gemacht hat. Er wurde nicht der Beteiligung an dem Korruptionskomplott beschuldigt.
Aber als Architekt von Selenskyjs System ist er aufgrund des Ausmaßes des Skandals angreifbar.
Seine kampfbereiten Anhänger sagen, er werde zu Unrecht verteufelt. „Die Menschen wollen einfache Entscheidungen und sie wollen alles auf Andrii abwälzen“, sagt Iryna Mudra, stellvertretende Leiterin des Präsidialamtes. Sie bezeichnet die Bemühungen, ihm die Schuld zu geben, als „unbegründete Spekulationen“.
Selenskyj hat keine einfachen Lösungen parat. Die Ermittler der Antikorruptionsbehörde und seine Regierung befinden sich auf Kollisionskurs und das mindestens seit dem Versuch, die Befugnisse der Behörde im Juli einzuschränken. Nun, da die Ermittlungen öffentlich sind, könnten einige der Beschuldigten Vereinbarungen mit den Behörden treffen und noch mehr schädigende Informationen preisgeben.

Selenskyj bei Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez
Fünf Personen wurden bereits verhaftet, weitere könnten folgen.
Die nächste Phase der Ermittlungen könnte bis zu einem Jahr dauern, sodass dem Präsidenten keine baldige Entlastung in Aussicht steht.
Quellen aus dem Umfeld der Anti-Korruptionsbehörden sagen, dass sie den riesigen Verteidigungssektor des Landes unter die Lupe nehmen. Das beschäftigt die Elite. Einige wollen einen kompletten Neustart der Regierung. Andere sehen darin eine Chance für den Präsidenten, sich von Beamten zu befreien, die sie als „Ballast“ bezeichnen, der ihn nach unten zieht.
